Designbote

Seit Anfang 2017 berate ich designbote.com. Zunächst habe ich stilistisch zum gelungenen Relaunch der etwas in die Jahre gekommenen Website beigetragen und das Logo und den neuen Schriftzug entwickelt. Seit dem Relaunch schreibe ich regelmäßig für den beliebten Blog. Hier lesen Sie zwei Beispiele für eine Buchvorstellung und ein Interview.

Buchtipp
The History Of Graphic Design Vol. 1
1890 -1959
Jens Müller / Julius Wiedemann (Hrsg.)
TASCHEN

Diese fast vier Kilo wiegende Gesamtschau von sieben Dekaden des angewandten zweidimensionalen Gestaltens reicht vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Wirtschaftswunders. Die Ursprünge des Grafik Designs liegen im Zusammenführen von druckbaren Bildern und dem Schriftsatz mit losen Lettern. Beide Techniken erfuhren seit ihrer Erfindung bzw. Verbreitung um 1450 umwälzende Entwicklungen. Die sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts dynamisierende Industrialisierung ließ den Bedarf an gewerblichen ‚Akzidenz‘-Druckprodukten anwachsen. Der, indes viel zeitaufwendiger produzierende Kupferstecher konnte für aufwendiger gestaltete Druckaufträge seine frei gestaltbaren illustrativen oder zierenden Elemente beisteuern. Dass um 1815 eine Londoner Schriftgießerei großformatige, teils verspielt gestaltete Stencils vorstellte, sollte der Gestaltung von Plakaten einen kreativen Schwung verleihen. Entscheidende kreative Impulse gingen von Nordamerika aus, wo man sich anders als in Europa, nicht von der Tradition einschränken ließ.
In den ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa aufkommenden Kunstakademien etablierte sich neben der kunstgewerblichen Produktgestaltung auch die Druckkunst.

Siegeszug der Lithografie: Toulouse-Lautrec und der Französische Jugendstil

Die Plakate des A.M. Cassandre und der Futurismus

Der beeindruckende Wälzer präsentiert auf fast 500 durchgehend vierfarbigen Seiten die Entwicklung des Metiers von frühen Plakatgestaltungen über die ersten Werbeanwendungen, Firmen- und Markenzeichen, Verpackungen bis hin zum Editorial Design. In einem einleitenden Essay zur ‚Vorgeschichte des Grafik Designs‘ analysiert der Grafikprofessor und Typograf David Jury die Ursprünge des Berufes und die Entwicklung der Drucktechnik. Die Technik der Lithografie, als Vorläuferin des Offsetdruckes erlaubte die vielfarbige Vervielfältigung der aufblühenden Kunst der Illustration. Die Kompetenzen der Vervielfältigung von Bildern und Text integrierten sich zusehends im Druckgewerbe und wurden von der sich schnell entwickelnden Werbeindustrie aufgegriffen und zur Promotion der explodierenden Warenproduktion in Zeitungen, auf Plakaten und Verpackungen genutzt. Der verkaufsentscheidende Beitrag des Grafik Designers ließ sich schließlich so überzeugend verkaufen, dass sich ein eigenständiges Berufsbild emanzipieren konnte.

Anfänge der Werbung: Japanische Einflüsse, bunte Poster und erste Logos

 

Bauhaus, Russische Avantgarde und Konstruktivismus: Lissitzky und Tschichold, Moholy-Nagy und Piet Zwart.

In chronologischer Reihenfolge flutet das Buch den Leser mit mehr als 2.500 ikonischen grafischen Arbeiten aus aller Welt, von denen 71 detailliert untersucht werden. 61 Grafiker, darunter die Jugendstil-Ikone Alfons Mucha, der für das Grafische Erscheinungsbild der Londoner ‚Tube‘ verantwortliche Edward Johnston, der konstruktivistische Architekt, Maler und Typograf El Lissitzky, der durch seine Fotomontagen bekannt gewordene Schweizer Herbert Matter, Saul Bass mit seiner markanten Formensprache und der Art Déco-Plakatkünstler A. M. Cassandre werden vorgestellt.

Wiener Büte von Grafik, Schmuck und Möbeln: Sezession, Wiener Werkstätten, Kokoschka, Hoffmann, Klimt und Moser.

Zu jeder Dekade werden auch die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen dargestellt vor deren Hintergrund sich die Stile, Arbeitsweisen und Anwendungen entstehen konnten und entwickelt haben.
Jens Müller kuratiert zwischen den Kapiteln eingestreute Themenschwerpunkte wie „Plakate aus dem Zweiten Weltkrieg“ oder „Humor in der Grafik“.
Ein zweiter Band des ambitionierten Nachschlagewerkes, auf dem man schon gespannt sein darf, soll von 1960 bis ins Heute reichen.

 

Nachkriegsblüte der Kreativität: Freiheit und neuer Konsum

Geschichte des Grafikdesigns. Band 1, 1890–1959

Jens Müller, Julius Wiedemann
Hardcover, 24,6 x 37,2 cm, 480 Seiten
50,-€

ISBN 978-3-8365-6307-9
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch

ISBN 978-3-8365-7081-7
Mehrsprachige Ausgabe: Englisch, Italienisch, Spanisch

ext: Wolfgang Linneweber
Erschienen 2/ 2018 auf designbote.com


Interview
Yi Fei Chen – Ein ‚explodierender‘ Hocker rettet vor unangenehmen Situationen


Die junge Taiwanesin präsentierte auf der Dutch Design Week 2017 einen Hocker, der vor peinlichen Situationen rettet. Der kulturelle Hintergrund von Fei erklärt, warum so ein Möbel nützlich sein kann, wenn man als Taiwanesin nicht schlicht „Ich geh mal eine rauchen“ sagen kann wenn man einfach mal seine Ruhe haben will.
Auch der Sinn und Zweck einer Tränenpistole erschließt sich aus dem kulturellen Kontext: Wo es die gesellschaftliche Konvention gebietet, peinliche Gefühle hinter einem Lächeln zu verbergen, da wirkt die Tränenpistole wie in smarte Technik gegossene Poesie.

Fei hat ihre eigene ‚Zigarette‘ geschaffen.

„Ich habe diesen Hocker als Hilfsmittel geschaffen, um eine akzeptable Ausrede für eine kleine soziale Pause zu finden und später wiederzukommen. Aber man muss sich um den Hocker kümmern. Das Kissen bläst sich nämlich allmählich auf, sobald man sich hinsetzt. Der Druck im Kissen steht für den zunehmenden sozialen Druck und spiegelt auch die stärker werdenden Emotionen wider die bald an ihre Grenzen stoßen werden. Der Mensch auf dem Hocker muss damit rechnen, dass das Polster irgendwann mal explodiert. Zum Glück kann das Kissen durch seitliche Wasserzufuhr wieder entspannt werden. Deshalb ist es eine gute Ausrede, dass man mal kurz Wasser für den Hocker holen muss.“
Die Herausforderung bei der ‚Pflege‘ dieses Stuhls besteht darin, die optimale Balance zwischen Sitzen, Weggehen und Füttern zu finden.

 

Designbote.com sprach mit der frischgebackenen Absolventin der Design Academy Eindhoven:

Ihre Objekte (oder sind es ‚Produkte‘?) sprühen vor Humor und zeigen vielschichtige Bedeutungsebenen.

Das hängt davon ab, wie Sie das Produkt definieren. Für mich ist es ein Produkt, ja, es ist mit ziemlicher Sicherheit ein Produkt. Selbst wenn es kein bequemer oder wirklich gemütlicher Hocker für den Benutzer ist, wenn sich der Stuhl in den Alltag der Menschen hineinentwickeln kann, um so größer ist die Chance, verschiedene Gedanken auszulösen und meine Botschaft zu übermitteln.

Als Mehrwert lösen sie in mir (nicht nur) widersprüchliche Gefühle aus und transportieren sie. Was ist die Quelle solcher Ideen und welche Art von widersprüchlichen Gefühlen lösen sie aus?

Es gibt viele kulturelle Unterschiede, auch wenn wir aus dem Internet lernen können, z.B. dass Asiaten höflich sind. Aber was bedeutet höflich für Sie, als Deutscher, und wie ist man höflich? Wie ist das, asiatisch höflich zu sein? Denn es gibt ja auch unterschiedliche Definitionen von Höflichkeit. Und um das zu erklären, werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen.

Ich habe immer die Raucher beneidet, weil ich die Zigarette als ein sehr nützliches Hilfsmittel in einem sozialen Kontext entdeckt habe. Es erlaubt dem Raucher, eine Auszeit zu nehmen und die aktuelle, möglicherweise unangenehme Situation zu verlassen, ohne die wirkliche Entschuldigung zu offenbaren, die dem Verlangen nach einer Zigarette zugrunde liegt. Für mich ist das eine sehr gute Ausrede, um einen unangenehmen Situation zu verlassen.

Vor ein paar Jahren, als ich gerade in den Niederlanden angekommen war, bin ich zu einigen Meetings gegangen und habe einige Bekannte gesehen, die Zigaretten rausholten und draußen eine Pause eingelegt haben. Gleichzeitig spürte ich, dass ich ein bisschen frische Luft brauchte, und so ging ich nach draußen und machte einen kleinen Spaziergang auf eigene Faust. Als ich zurückkam, sahen mich alle an und fragten mich, ob es mir gut gehen würde. In diesem kurzen Moment verspürte ich den Druck, die Wahrheit zu sagen. Eigentlich wollte ich doch nur für eine Weile alleine sein. Trotzdem behielt ich in diesem Fall meine Gefühle für mich und beschloss, mich nicht zu äußern, um unnötige Aufmerksamkeit oder Fürsorge zu verhindern – also habe ich mir sofort eine Entschuldigung ausgedacht, weil ich das sanfter und höflicher finde.

Denn in der taiwanesischen Kultur sagen wir gewöhnlich nicht unverblümt zu einem Bekannten: „Sorry, ich will jetzt mal meine Ruhe haben“. Diese Botschaft wird meist nur in ernsten und negativen Zusammenhängen verwendet. Das heißt aber nicht, dass wir überhaupt keine Auszeit brauchen, sondern wir haben nur eine andere Art, zu kommunizieren. Codes wie „Ich muss mal kurz telefonieren“ oder „Ich muss zum Geldautomaten“ sind da schon realistischere Ausreden. Obwohl wir diese Geheimsprache verwenden, kann jeder zwischen den Zeilen lesen.

Aber es ist immer ein bisschen schwierig, es meinen europäischen Freunden zu erklären, und auch ich fühlte mich schon sehr unpassend in westlichen gesellschaftlichen Anlässen, so dass die erste Idee lautet: „Ich will meine eigene Zigarette machen (als Fluchtwerkzeug)“. in westlichen sozialen Anlässen. Darüber hinaus sind wir wirklich kreativ, wenn es darum geht, verschiedene Ausreden in verschiedenen Kontexten, für verschiedene Personen, zu erfinden, warum also nicht auch „Entschuldigung“ lebendig zu machen? Wie ein Tier. Weil nicht-lebende Objekte nicht so flexibel und intelligent sind. Es ist auch sehr ostasiatisches Denken, wir versuchen, die Umwelt anzupassen, ohne andere zu bitten, sich zu ändern. Und ich will sehen, wie es aussehen würde und wie es sich verhalten wird.

Haben Sie vor, Ihr soziales Umfeld zur Bühne für Ihre Version von“Social Art“ zu machen?
Vielleicht bezieht sich die Tränenpistole tatsächlich auf etwas ganz anderes und weniger Offensichtliches, als nur mit gefrorenen Tränen zu schießen?

Ja, es gibt viele Schichten dahinter.

Yi Fei Chen mit Tränenpistole

Wie kommt es, dass die emotionalen Effekte, auf denen Ihre Produkte beruhen und mit denen Sie spielen, um die Peinlichkeit zu kreisen scheinen (in einer ungewohnten Umgebung)?
Während der Ausbildung zum Produktdesigner in meinem Bachelor-Studium wurde uns beigebracht, dass Design Probleme lösen soll. Und was mich am meisten stört, sind zwischenmenschliche Situationen die ich mit meinen Fähigkeiten lösen will.

Spiegeln sie Ihre persönlichen Erfahrungen wider?

Ja, ich habe mich von meinen persönlichen Schwierigkeiten und Problemen inspirieren lassen, für die ich keine naheliegenden Lösungen sehe.
Mein Gefühl: Auf den ersten Blick ist die niederländische Gesellschaft sehr tolerant und offen (vielleicht ein Echo der wilden Siebzigerjahre), während heutzutage alles wie auf Schienen läuft und es viele stillschweigende soziale Vereinbarungen gibt, die man einhalten muss. Aber aus deutscher Sicht ist zu vermuten, dass Deutschland im Vergleich zu den heutigen Niederlanden geradezu anarchisch ist. Wie seltsam fühlen sich die Niederlande für Sie an, die Sie aus einer ganz anderen Kultur stammen?

Völlig andere Denkweisen. Vor allem lerne ich einige neue Auffassungen kennen, über die man in der ostasiatischen Kultur nicht oft spricht (wie z.B. persönliche Grenzen. Und ich denke, dass wir deshalb ein Problem damit haben, nein zu sagen. Wir haben verschiedene Methoden, um das zu tun. Wie ich bereits erwähnte, nutzen wir manchmal eine Ausrede, um etwas abzulehnen oder uns zu distanzieren und die anderen kennen den betreffenden „Code“.)

Haben Sie sich jemals fremd gefühlt, so weit weg von zu Hause? Wenn ja, hat dieses Gefühl irgendeine kreative Lösung oder ein Produkt, das Sie geschaffen haben, beeinflusst?

Ja. Das macht mir die kulturellen Unterschiede bewusst, die mir in Taiwan nie aufgefallen waren, und auch auf meine Verhaltensmuster. Das hilft mir, mich selbst besser kennenzulernen.

Ich wage es nicht, mir vorzustellen, dass ich jemals von einer gefrorenen Träne getroffen würde. Das tut sicher weh, sowohl emotional als auch körperlich. Ich nehme an, dass sich hinter dieser Idee auch ein kulturelles Phänomen verbirgt….

Ja.

Welche Reaktionen haben Sie ausgelöst, als Sie die Stuhl- und Tränenpistole öffentlich präsentierten?

Der Mentor wurde ziemlich nervös („vielleicht erschrocken“), als ich eine Waffe auf ihn gerichtet habe. (weil er ja keine Ahnung hatte, wie stark der Aufprall sein würde). Spannung!

Sie arbeiten im Randbereich des Ingenieurwesens und scheinen eine Schwäche für gas- und flüssigkeitsbetriebene Technik zu haben. Wie kommt’s?

Ich freue mich, dass Ihnen das auffällt, und ich finde es interessant, dass Sie so denken. Eigentlich hatte ich einen anderen Stuhl-Prototyp in Arbeit (die frühere Version) mit demselben Konzept, aber mit Feuer und Nadeln. Bei dieser (neuen) Version nutzte ich die gleiche Technik mit der Tränenpistole, weil ich eine Assoziation herstellen und meine visuelle Sprache entwickeln wollte. Mit anderen Worten, ich habe dem Publikum einen Wink gegeben, und es funktioniert tatsächlich. Manchen Designstudenten und einem Journalist war das aufgefallen und sie haben mich darauf angesprochen, ob ich die Designerin der Tränenkanone sei.

Welche Fertigungstechniken haben Sie für Ihre Stuhl- und Tränenpistole angewandt?

Metalldrehen, Holzbearbeitung, Mechanik, Silikonformen, Pneumatik.

Wo wollen Sie Ihre Fähigkeiten nach dem Studium einsetzen?

Ich bin fasziniert von Maschinen und Apparaten.

http://chenyifeidesign.com/