Biografische Erinnerungen

Zweiter Keller 1

Die wilden 60er und 70er

Der fetthaarige Einarmige grinste hämisch, ließ gut gelaunt den leeren, linken Ärmel seiner abgewetzten Anzugjacke kreisen und drückte mit einem eleganten Schwung des rechten Armes routiniert einen der blank gewetzten Knöpfe. Ächzend setzte sich der Lastenaufzug in Bewegung. Jetzt bekam „Abwärts“ eine ganz neue Bedeutung. Gehörte der erste Keller noch dem Heer der Ameisen UND der Kundschaft, so begann im Zweiten Keller definitiv das Reich des Schreckens. Wenn sich die verbeulte Falttüre rappelnd öffnete, fiel der Blick meistens auf abgewrackte, von Müll überquellende Bahnsteigkarren. Vor hundert Jahren mal weiß gekachelte, von uralten Staubschichten grau gefärbte Wände säumten die endlosen Gänge tief unter dem Kaufhaus. Ebenso endlose Reihen an der Decke befestigter, eingestaubter Leuchtstoffröhren die sich in der Ferne verloren, gelang es kaum, gegen die von allen Seiten vorrückende Finsternis an zu funzeln.

Hier unten wurden auch die saubersten Kittel praktisch von selbst grau. Wer sich verlief, geriet an die seltsamsten Typen, aus oberirdisch kaum bekannten Abteilungen und konnte vierschrötigen Bumsköpfen in weißen, talgigen Gummischürzen in die Quere kommen, zu breit, als dass an ein Vorbeikommen zu denken gewesen wäre, oder bleichgesichtigen, ausgemergelten Figuren in schmierigen Blaumännern vor die fiesen Leiber rennen, deren beizende Alkoholfahne töten konnte. Übergewichtige, späte Mädchen, zu hässlich, als dass der Abteilungsleiter sie im Ersten Keller hinter die Salattheke gestellt hätte, aber schon zu lange dabei, um ihnen zu kündigen, schielten aus pickligen Gesichtern in die unterirdische Welt. Vom Aufzug zweimal links, in einem Verbindungsgang, waren die Requisitenlager von Laden- und Fensterdeko zu finden. Einer dieser verwinkelten Verschläge war Fassbenders subterranes Reich. Den alten Dekorateur, der hier unten noch seine Rente zu erleben hoffte, sah man sonst nur bei der morgendlichen Einteilung, die er immer die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wortlos in der Zweiten Reihe hinter sich brachte, bevor er unauffällig verschwand. Der dürre, verhärmte Mann, zu untalentiert und inzwischen zu schwach um den hartgesottenen Ex-Uffzen und Hauptgefreiten noch gewachsen zu sein, die so typisch für das Personal der Ladendeko waren, fristete hier unten bei Staub und stickiger Luft sein Gnadenbrot. In seinem Fundus, dessen Dimensionen sich im fahl beleuchteten, grauen Einerlei nur noch undeutlich auszumachender Konturen abgelegten Dekokrempels verloren, ruhte eine unüberschaubare Masse eingestauben Gerümpels aus buntem Plastik, fahle Stoffballen, Latten, Leisten, Nagelpakete, Netze mit künstlichem Meeresgetier, Büsten mit altmodischen Gesichtern und noch antiquierteren Pomadefrisuren. Hier war das Reich der Dinge, die nur zu assistieren hatten beim großen Appetitmachen auf die wahre Ware. Hier war ihre Gruft, oft für immer.

Ein Dauerbrenner, immer gern genommen, waren schmale Kartons mit Eisenstecknadeln, die in zweierlei Größen ständig zum Ausspannen von Fensterböden benötigt wurden. So klein die Schachteln waren, so schwer waren sie auch. Je eine glitt in eine Kitteltasche, worauf sich der weiße Stoff schwer über den Schultern spannte, die Taschen beim Gehen träge an die Oberschenkel schlugen und dabei unterdrückt zu zischeln schienen. Genau wie Kappleisten „schmal“ und „breit“ gab Fassbender Amazona-Nadeln 105 und 115 nur ungern raus und am liebsten abgezählt in Tütchen. Zu oft hatte der Ausgezehrte mit dem Kölschen Akzent angebrochene Päckchen im Dekogang gefunden oder ganze Bündel Kappleisten aus irgendwelchen staubigen Ecken geangelt, um sie wieder in die Sicherheit seines Lagers zu retten. Fassbender hatte, was uns Lehrlinge amüsierte, einen interessanten Sprachfehler, den ich nur als „Wasser im Zahn“ beschreiben kann. Eine solche Anomalie zu imitieren hatte mir als Kind einmal eine heiße Backe eingebracht, als sich der Fremdenlegionär, mit dem meine Mutter ein Verhältnis hatte, verarscht fühlte, urplötzlich quer über den Wohnzimmertisch geflogen kam und mir dermaßen eine schmierte, dass ich vor die Wand flog. Bei Fassbender sah ich von einer Parodie ab, er tat mir leid. Noch mehr, als ich mir selber leid tat.

Auch die Ausgabe sauberer Kittel oblag dem alten Knaben. Jeden Montagmorgen nach der Einteilung begab sich die gesamte Mannschaft von Fenster- wie auch Ladendeko in den Zweiten Keller. Wer es sich dienstgradmäßig erlauben konnte, schickte einen Subalternen in die Tiefe, um einen möglichst kurzen, gut sitzenden Kittel abholen zu lassen, frisch gestärkt und so steif, dass sich das blendendweiße Textil kaum auseinanderfalten ließ. Vor dem Anziehen galt es, mit steifen Fingern einen Weg durch die platt aneinanderhaftenden Ärmel zu bahnen, die sich auch unter Nachdruck und Reibungswärme nur widerwillig dem Arm öffneten. Einmal angezogen mussten auch die von der Stärke zusammengeklebtenTaschen gangbar gemacht werden, um eventuelle Beute, wie zum Beispiel das so begehrte Teppichklebeband, aufzunehmen, dass man mit schnellem Griff aus Fassbenders Brettertheke gegriffelt hatte. Nach dem Rückweg durch die finsteren Gänge zum Aufzug, immer gegen den unaufhörlichen Strom warmer, von Staub und allerlei ranzigen Gerüchen geschwängerter Luft, versammelte sich die frisch bekittelte Mannschaft vor der Fahrstuhltür um ungeduldig gegen das schrundige Blech zu trommeln, und fluchend auf den einarmigen Scheißkerl zu warten, der natürlich wusste, dass eine Horde der verhassten Schmücker hier unten auf ihn wartete – nur um von ihm, dem Allmächtigen, wieder auf standesgemäßes Niveau befördert zu werden.

Handgreiflichkeiten mit dem Einarmigen galt es tunlichst zu vermeiden. Sein rechter, verbliebener Arm war so stark, dass auch harte Socken keine Chance gegen den Hundesohn hatten. Ich wurde durch die schmutzige Drahtglasscheibe zufällig einmal Zeuge, wie der Irre einen Kollegen kreuz und quer durch den Lastenlift drosch, nachdem er zuvor sorgfältig und mit scheinbar gleichgültiger Miene, die Falttüren zugezogen hatte, um sich seinem Passagier in aller Abgeschiedenheit widmen zu können. Die mürben Reste seines Opfers trat der baumlange Liftboy schließlich im Zweiten Keller raus, wo sich für Blut spuckende Dekorateure ohnehin kein Aas interessierte.

Dieses Foto aus meinem ersten Lehrjahr als Schaufenstergestalter fand seinen Weg in meinen Wehrpass. Batikhemd und Haartracht sorgten bei den Bürohengsten der Ausbildungskomanie 11/3 für einiges Stirnrunzeln.
Das klassische Outfit für einen glaubwürdigen Auftritt: Der mit kleinen Spiegelchen verzierte und bestickte Ziegenfellmantel wies seinen Träger als Liebhaber fernöstlicher Spezereien und fortschrittlicher Rockmusik aus.

Zweiter Keller 2

Schweinehälften

Das Leben als Lehrling war kein Zuckerschlecken, speziell in der Ladendeko. Das fing schon morgens an. Im Dunkeln aufstehen, in ein Butterbrot beißen, quer durchs Dorf zur Haltestelle eiern und hoffen, dass der Schrotthaufen quietschend anhielt und nicht durchfuhr, was gelegentlich vorkam. Dann eine knappe Stunde umständliches Gerumpel im abgetakelten Gelenkbus von „Gey-Reisen“ über Stotzheim und Efferen, angeweht von beizenden Dieselqualm, den Geschmack von Bremsflüssigkeit auf der Zunge. Verirrter Rauch aus der HB des arroganten Fahrers, der mich mit meinen langen Haaren penetrant mit „Fräulein“ anredete, war da schon eine Wohltat für die Nase.

Dann der Fußweg von der Bushaltestelle auf dem Blaugerberbach, die Steigung der Hohen Pforte, die Tristesse der anderen langen Gesichter auf ihrem Weg zu ähnlicher Fron, und die Vorfreude auf die zu erwartenden Disziplinierungen, die in der Ladendeko zum Guten Ton gehörten, ließen die Stimmung mit jedem Schritt sinken.

Unterwegs wieder einzupennen bedeutete, erst am Busbahnhof aussteigen zu können und die Hohe Straße zurück laufen zu müssen, was die Stechuhr gnadenlos in roter Tinte dokumentierte.

An der Cäcilienstraße erfasste das Auge erstmals die Gebäudemasse des Kaufhauses von der Süd-Ostseite. Links Zentra-Auto, der hauseigene Opel-Händler, rechts davon die „Spindel“, um die sich die Auffahrt zum Parkhaus, aber auch die Zufahrt zum unterirdischen Wareneingang wendelten. Im Zentrum dieses Gebäudeteils ragte die Stahlkonstruktion eines Parkpaternosters bis zu einem Glasdach auf, wobei in ihren Parkfächern jeweils ein Auto eines leitenden Angestellten Platz fand. Weitere Fahrzeuge konnten aufgenommen werden, wenn auf Knopfdruck ein leeres Parkfach von einer Art gigantischer Fahrradkette auf Nullniveau befördert wurde. Im Keller bildete sich die Basis dieser „Spindel“ als rundes Gemäuer ab, das via einer Reihe steiler Stufen in der Rampe des Wareneingangs und eine doppelflügelige Feuerschutztür zugänglich war.

Abb. Aus „Hauspark_Parkplatz Parkhäuser und Parkideen im 21. Jahrhundert (Stadtbaukultur NRW, 2006)

Vor mir, auf der Ecke Hohe Pforte/ Cäcilienstraße befand sich ein Eingang zum Laden, links davon Fenster 6. Hatte man die vierspurige Straße überquert, so folgte man der Südfassade, passierte die Spindel und bog bei Zentra-Auto rechts in die kleine Straße „An Sankt Agatha“ ein. Dort befand sich der Personaleingang, der gegen 7.30 Uhr morgens begierig die graue Masse der Lohntütenempfänger schluckte, die am Pförtnerhäuschen links in ein Foyer einbogen, um sich per Paternoster im Haus zu verteilen. Schon hier trennte sich die Spreu vom Weizen.

Einzelne, oft proper gekleidete Bürohengste und Tippsen ließen den rastlosen Aufzug rechts liegen und bevorzugten den Weg über die Treppe. Manche hatten Angst, so wussten wir, von Rabauken der unteren Etagen am Aussteigen gehindert zu werden und den ungewissen Weg über die Kehrpunkte der armdicken Ketten im Keller oder unterm Dach nehmen zu müssen. Manche glaubten allen Ernstes, sie würden dort auf den Kopf gestellt, wenn sie das Abenteuer denn überhaupt überlebten. Mindestens einmal pro Woche kam es vor, dass kreischende Lehrmädchen vor Panik ganz kirre, nach einer solchen Irrfahrt aus dem Paternoster stolperten und wie von Sinnen flüchteten. Von älteren Arschkriechern wurden solche Aktionen mit Kopfschütteln quittiert, die Täter mental fotografiert und umgehend angeschissen. Im Hintergrund seines sichtbaren Funktionierens führte das Kaufhaus ein geheimes Gedächtnis aus beschriebenem Papier und gelochten Holerithkarten, gegen das ein Elefantenhirn eine geradezu amöbenhaft schwachsinnige Struktur sein musste.

Es sah ganz danach aus, als bilde sich der Status der Mitwirkenden dieses Theaters vertikal ab. Wenn es auch für die meisten aufwärts ging, oder doch zumindest zu ebener Erde in gediegenere Abteilungen wie Parfümerie, Miederwaren, Schmuck und Schallplatten, so ging es für eine eigentümlich zwielichtige Auslese abwärts. Zu diesem Völkchen zählten die Mitarbeiter der Lebensmittelabteilung und ihrer Lager und Kühlhäuser, die Metzger, die schwergewichtigen Mamsellen aus der Imbissstube „Sankt Agatha“, die Schlosser und Elektriker der Hausinspektion, das hohlwangige Gespenst von der Müllverbrennung und schließlich die schon optisch oft unkonventionellen Damen und Herren der Laden- und besonders der Fensterdeko. Aber auch namen- wie gesichtslose Figuren aus dem Zweiten Keller nahmen diesen Weg, nur um dann per Lastenaufzug noch tiefer zu sinken. Sie alle, ausgenommen die privilegierten Schmücker der Fensterdeko, hatten sich dazu an der Stechuhr vorbei zu drücken.

Die Fensterschmücker machten, nachdem sie ihre Karten in den Schlitz der Stechuhr versenkt hatten, was diese mit einem tristen „Kling“ quittierte, wieder kehrt, um rechts seitwärts hinter einer heiser knarzenden Feuerschutztür im Dekogang zu verschwinden, die daraufhin mit lautem Knall ins Schloss fiel. Der Weg zur Ladendeko hingegen wand sich Gebäude einwärts, bog rechts ab in die sogenannte „Expedition“, wo emsige Hände Tag aus Tag ein mit dem Verpacken bestellter Ware beschäftigt waren, die dann von der hauseigenen Spedition Hasenkamp ausgeliefert wurde. Sondereinsätze wurden von einem gewissen Herrn Krebs im langnasigen, lindgrünen Mercedes-Laster ausgeführt. Das kölsche Fossil mit dem zerdrückten Speckhütchen auf dem Hinterkopf, das wahrscheinlich schon seit hundert Jahren mit heiserem Fiepen Camels inhalierte, schien seine gelegentlichen Transportaufträge für die Dekoabteilungen einem besonderen Draht zur Chefetage zu verdanken.

Angesichts der zu befürchtenden Demütigungen sank auf den letzten Metern von der Expedition über die Rampe des Warenausgangs bisweilen auch Abgebrühten der Mut, die deshalb, mit gespieltem Übermut aber letztlich nur, um sich abzulenken, noch kurz auf die Lastenwaage sprangen, als wollten sie ihr Lebendgewicht vor der Schlachtung prüfen. Sah man gebeugte Männer in weißen, von Blut und Rindertalg verschmierten Kapuzenkitteln, so war Vorsicht geboten. Denn in der Linkskurve nach der Flügeltür aus halbtransparenten Kunststofflappen konnte es passieren, dass man im allgegenwärtigen Rauschen der Lüftungen das dräuende Bollern der Förderrollen überhörte und man von einer in Schräglage um die Kurve sausenden, kalten Schweinehälfte, die draußen auf der Rampe entladen, an die Lastenschiene gehängt und in Schwung versetzt wurde, unversehens getroffen und schmerzhaft gegen die Mauer geboxt wurde.

War diese Hürde genommen, so konnte sich der junge Mensch auf eine letzte Feuerschutztür freuen, hinter der ihn ein Paradies der Gemeinheiten, ein Eldorado der Fettnäpfchen, ein Abgrund bodenlos gemeiner Schikanen, nämlich die Ladendeko erwartete, um ihn vom zwar unerzogenen, aber noch lebendigen Wesen, zum willen- und meinungslosen Opportunisten zu erziehen. Eine Frage, die männlichen Auszubildenden unweigerlich gestellt wurde, lautete: „Haben Sie schon gedient?“ Das heuchlerisch höfliche „Sie“ diente in der Folge nur dazu, den Graben zwischen Ausbildern und Azubi zu vertiefen und der Schikane den perfiden Anstrich des Korrekten zu verleihen.